Die Papierfabrik – Recension/Rezension by Hanna Steinegger

Die Papierfabrik, Sina Merino
Die junge Frau sitzt ihrer „ganz besonderen Tante“ gegenüber, eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich. Ein langer Flug liegt hinter ihr. Eingetaucht in die altmodische, von Erinnerungen geprägte Umgebung, fiebert sie nun langersehnten Antworten entgegen. „Was macht Deine Papierfabrik?“ Möchte sie als Erstes wissen. Die Tante beginnt zu erzählen. Von ihrer Jugend in süditalienischer Armut. Vom eingeschränkten Leben als junge Frau in der damaligen Zeit. Vom späteren Dasein als Gastarbeiterin in der Schweiz. Es folgt die unglaubliche Heirat auf Distanz, zu der sie sich 1954 mittels einer „Procura“ verpflichtete. Ein Foto am Schluss des Buches zeigt sie als Braut ohne Bräutigam. Erst zehn Jahre später sollte sie diesen physisch treffen, was bedeutete, dass sie nach Argentinien auswandern musste. Unendlich vieles aus familiärer Vergangenheit stürmt auf die gebannt lauschende Nichte ein. Die Tapferkeit und Intelligenz ihrer Tante Anna, die schliesslich zu späterem Wohlstand führte, nötigt ihr Achtung und Respekt ab. Vor allem die Gründung der Papierfabrik. In reiner Handarbeit hatte sie im fernen Argentinien Tragtaschen, Tüten, Verpackungsschachteln und andere Papierprodukte hergestellt und so das Überleben der Familie gesichert. Gefühle übermannen die alte Frau zwischendurch. Bittere und andere. Dann wieder spricht sie nüchtern über die politischen Wirren der vergangenen Jahre. Über die Hochs und Tiefs als Folge. Ihre Geschichte ist lang. Die Ausdrucksweise unverfälscht.
Dieses Buch ist ein wertvolles, spannend gestaltetes Zeitdokument, das vor vier Jahren von der Autorin auf eigene Faust verfilmt wurde. Die Sensibilität mit der sie Tante Anna ihre Geschichte aufrollen lässt, zeugt von tiefem Bedürfnis, mehr über ihre Familie zu wissen und vor allem zu „verstehen“.
Die Papierfabrik erscheint neu auch in italienischer Sprache. Was einer eigentlichen Heimkehr gleichkommt. Ich gratuliere Sina Merino zu dieser liebevoll gestalteten und sehr aufschlussreichen Erzählung.